Über den schame-Begriff in Wolfram von Eschenbachs „Parzival“
Der hohe Stellenwert, der dem schame-Begriff im Parzival zukommt, wird schon allein aufgrund der Tatsache deutlich, dass er im Text ganze 56 mal vorkommt. Allerdings hängt die Bedeutung des Wortes einerseits vom jeweiligen Kontext ab und variiert andererseits entsprechend der Art und Weise, wie die Situation vom Übersetzer interpretiert wird.
Bereits im Prolog heißt es: scham ist ein slôz ab allen siten. Durch die metaphorische Verwendung des Wortes slôz wird verdeutlicht, dass mit scham hier eine grundlegende Tugend gemeint ist, die sozusagen die „Rahmenbedingung“ für Anstand und Sittsamkeit darstellt und alle anderen siten zusammenhält. Yeandle weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass Wolframs Parzival der erste Text ist, in dem der schame-Begriff eine ethisch-moralische Färbung erhält.
Allerdings ignoriert Yeandle scheinbar die weit verbreitete Annahme, dass schame an einigen Textstellen weniger im Sinne einer Tugend, sondern vielmehr als spontane emotionale Reaktion zu verstehen ist. Beispielsweise interpretiert er die „Badeszene“ so, als würde Parzival keinerlei Scham (im Sinne von peinlichem Berührt-sein aufgrund seiner Nacktheit) empfinden. Entsprechend übersetzt er die Verse 167,21 – 24 folgendermaßen: „Man bot ihm ein Badetuch an, das er vil kleine (= „gar nicht“) beachtete, denn er verstand es nämlich, sich vor Frauen so zu schämen (sus wir auf vil kleine bezogen und erneut im Sinne von „gar nicht“ verstanden), dass er es vor ihnen nicht um sich wickeln wollte.“
Dem entgegen steht die naheliegende Übersetzung des Verses 167,22 im Sinne von „das [Badetuch] nahm er als viel zu klein wahr“. N.F. Palmer interpretiert Parzivals Verhalten in dieser Szene als „instinctive, natural response“, geht also sehr wohl davon aus, dass er über ein ererbtes, „natürliches“ Schamgefühl verfügt. Gestützt wird diese These auch von dem Verhalten Parzivals am Abend zuvor, als er auf Gurnemanz' Aufforderung, sich zum Schlafen auszuziehen, mit Befangenheit reagiert und seine Blöße sofort mit einer Decke verhüllt.
Tomasek geht noch einen Schritt weiter und versteht die „Badeszene“ als ein Initiationserlebnis, aus dem sich eine „Dialektik des Schambegriffes“ entwickelt: Sie bewirkt nicht nur einen Verlust der kindlichen Unbefangenheit infolge des Begreifens der eigenen Körperlichkeit (also den Übergang zum Erwachsensein), sondern auch die Erkenntnis von tugendhafter Scham als konstruktiven höfischen Wert. Gemeinsam mit dem Helden erlebt auch der schame-Begriff einen Übergang: Er wird fortan als ein“Schwellenwert“ aufgefasst, der nicht nur die körperliche Entwicklung Parzivals (bzw. des Menschen im Allgemeinen), sondern auch für seine gesellschaftliche Entwicklung kennzeichnend ist.
Literatur: Baisch, Martin: Über Scham und Wahrnehmung in Wolframs Parzival. In: Greenfield, John (ed.): Wahrnehmung im 'Parzival' Wolframs von Eschenbach. Actas do Colóquio Internacional 15 e 16 de Novembro de 2002. Porto 2004, S. 105-32.
Der hohe Stellenwert, der dem schame-Begriff im Parzival zukommt, wird schon allein aufgrund der Tatsache deutlich, dass er im Text ganze 56 mal vorkommt. Allerdings hängt die Bedeutung des Wortes einerseits vom jeweiligen Kontext ab und variiert andererseits entsprechend der Art und Weise, wie die Situation vom Übersetzer interpretiert wird.
Bereits im Prolog heißt es: scham ist ein slôz ab allen siten. Durch die metaphorische Verwendung des Wortes slôz wird verdeutlicht, dass mit scham hier eine grundlegende Tugend gemeint ist, die sozusagen die „Rahmenbedingung“ für Anstand und Sittsamkeit darstellt und alle anderen siten zusammenhält. Yeandle weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass Wolframs Parzival der erste Text ist, in dem der schame-Begriff eine ethisch-moralische Färbung erhält.
Allerdings ignoriert Yeandle scheinbar die weit verbreitete Annahme, dass schame an einigen Textstellen weniger im Sinne einer Tugend, sondern vielmehr als spontane emotionale Reaktion zu verstehen ist. Beispielsweise interpretiert er die „Badeszene“ so, als würde Parzival keinerlei Scham (im Sinne von peinlichem Berührt-sein aufgrund seiner Nacktheit) empfinden. Entsprechend übersetzt er die Verse 167,21 – 24 folgendermaßen: „Man bot ihm ein Badetuch an, das er vil kleine (= „gar nicht“) beachtete, denn er verstand es nämlich, sich vor Frauen so zu schämen (sus wir auf vil kleine bezogen und erneut im Sinne von „gar nicht“ verstanden), dass er es vor ihnen nicht um sich wickeln wollte.“
Dem entgegen steht die naheliegende Übersetzung des Verses 167,22 im Sinne von „das [Badetuch] nahm er als viel zu klein wahr“. N.F. Palmer interpretiert Parzivals Verhalten in dieser Szene als „instinctive, natural response“, geht also sehr wohl davon aus, dass er über ein ererbtes, „natürliches“ Schamgefühl verfügt. Gestützt wird diese These auch von dem Verhalten Parzivals am Abend zuvor, als er auf Gurnemanz' Aufforderung, sich zum Schlafen auszuziehen, mit Befangenheit reagiert und seine Blöße sofort mit einer Decke verhüllt.
Tomasek geht noch einen Schritt weiter und versteht die „Badeszene“ als ein Initiationserlebnis, aus dem sich eine „Dialektik des Schambegriffes“ entwickelt: Sie bewirkt nicht nur einen Verlust der kindlichen Unbefangenheit infolge des Begreifens der eigenen Körperlichkeit (also den Übergang zum Erwachsensein), sondern auch die Erkenntnis von tugendhafter Scham als konstruktiven höfischen Wert. Gemeinsam mit dem Helden erlebt auch der schame-Begriff einen Übergang: Er wird fortan als ein“Schwellenwert“ aufgefasst, der nicht nur die körperliche Entwicklung Parzivals (bzw. des Menschen im Allgemeinen), sondern auch für seine gesellschaftliche Entwicklung kennzeichnend ist.
Literatur: Baisch, Martin: Über Scham und Wahrnehmung in Wolframs Parzival. In: Greenfield, John (ed.): Wahrnehmung im 'Parzival' Wolframs von Eschenbach. Actas do Colóquio Internacional 15 e 16 de Novembro de 2002. Porto 2004, S. 105-32.